Zwanzig Jahre war die Geburtshilfe in Thusis mein Zuhause. Zuhause ist ein Ort, wo man liebt, streitet, sich selbst sein darf, eine Gemeinschaft lebt.
Zuhause im Regionalspital gab es vor zwanzig Jahren ein paar wenige Büros, auf den Stationen keine Computer, keine IT-Spezialisten, keine Qualitätsmanager.
Auch früher gab es Zuhause nicht nur Friede, Freude und Eierkuchen. Doch im Zentrum standen wir: die einfachen Gesundheitsfachpersonen und die Patienten und Klienten. Wir waren die Mehrheit.
Fragend hab ich dem Wandel beigewohnt, wollte das Ganze verstehen. Hab mich eingefügt in die studierte Gesellschaft und den wissenschaftlichen Master absolviert. Das hat mich noch mehr traurig gemacht. Ja, Wissenschaft ist wertvoll, doch in diesem System werden oft Liebe, Intuition und Instinkt ausgeblendet. Und diese Wissenschaft ist finanziert - veröffentlicht und beachtet wird das, was lukrativ ist.
Nun stehen wir da und springen ständig neuen Evidenzen nach. Immer mehr Untersuchungen und Empfehlungen für unsere Schwangeren und Familien - gibt das ihnen wirklich Sicherheit? Inwiefern schüren wir damit deren Unsicherheit? Wer sagt den Eltern noch, dass sie auch - nein, dass sie vorallem sich selbst vertrauen dürfen?
Und für uns gibt's immer mehr Pflichten, Bürokratie, Computerarbeit, Computerprobleme, Spitalapps auf dem Handy, Datenschutzmassnahmen, Revisionen, Änderungen über Änderungen - im Wochentakt. Sie klauen uns die Zeit für die echte Arbeit. Die Arbeit von Mensch zu Mensch. Die Zeit für Herzensfragen, die Seelsorge und die Selbstermächtigung. Sie klauen uns das Gefühl für unsere persönliche Eigenverantwortung und den Zugang zur eigenen Mitte.
Und diese Änderungen kosten. Die Digitalisierung kostet. Die Spezialisierung kostet. Die unzähligen Geräte kosten. Die nicht endenden Umbauten, die vielen neuen Büros kosten. Die Büroangestellten kosten. Die "Wissenschaft" kostet. Die Akademisierten kosten. Darunter wird die einfache Grundversorgung unbezahlbar.
Das Gesundheitswesen entgleist digitalisierungsabhängig, luxusgeil, kontrollmanisch, spezialisierungswahnsinnig, pharmalobbyistisch, datenschutzirrsinnig und überverstudiert - was alles nicht bedeutet gesund reflektiert.
Regionalspitäler und viele wertvolle Angebote kämpfen darin ums Überleben. Und nun wird mein Zuhause, ein alternativer Geburtsort, wohl geschlossen.
Nein, eigentlich war es gar nicht mehr mein Zuhause. Ich hatte bereits begonnen, mich mehr und mehr an den Rand des Systems zurückzuziehen. Selbstständig. Ich versuche am Rand des wilden Stroms ruhige Ecken zu finden. Versuche von dort die Menschen in dieser verrückten Welt zu stärken. Damit sie selbstermächtigt zurück in ihre eigene und urtümliche Kraft finden. Ich glaube das ist heilsam. Für mich - und für meine Mitmenschen.
(Nachtrag Sept.24: die Geburtshilfe in Thusis wird wiederbelebt, sobald wieder genügend Personal gefunden ist. Die Finanzierung bleibt schwierig - die Zukunft ungewiss. Die Probleme der kleinen persönlichen Spitäler in dem heutigen Drive bleiben bedrohlich. Ich bleibe selbstständig und freue mich, wenn ich in Thusis wieder einfach als externe Beleghebamme arbeiten darf.)